2021 Pushback

 

 

Stefan Daub


„Europa“

Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium,

Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. 

Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt,

Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. 

Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein 

wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein!

Ja – wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund! 

Und wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund!

Freude heißt die starke Feder in der ewigen Natur.

Freude, Freude treibt die Räder in der großen Weltenuhr.

Blumen lockt sie aus den Keimen, Sonnen aus dem Firmament,

Sphären rollt sie in den Räumen, die des Sehers Rohr nicht kennt.


Ode an die Freude/Schiller - Europahymne

 

 

Nouki

Sounds Like

Bildtitel: 1 Whose Values?

Bildtitel: 2 New Exercise


Tracklist: 

1. Pushback is not a Unwort

2. Necessary measure

3. we [want to] preserve

4. culture 

5. values [bastard king mix]

6. our social system [frontier worker version]

7. whose values?

8. the swiss miss

9. taxes [best of both worlds]

All titels by PUSHBACK and DJ Front X inflatable boat records 2021.


Thanks to Bernadette Freund, Carlo Trockel, Petrus jr Baldes. Special thanks to Robert Buth for layout and graphics.

 

 

Julia Essl

„Pushback“


“I ask for asylum in Poland” ist der Versuch einer Kommunikation zwischen Migrant und Grenzschutz. Aber es hilft ihnen nicht, sie werden zurückgewiesen.

Das Recht auf Asyl wird auf brutale Weise missachtet.

 

 

Albrecht Haag

„Bürgerwehr”

Eine Anekdote aus dem heimatgeschichtlichen Buch »Die Ludwigshöhe« berichtet von einer Bürgerwehr, die es nach dem Zweiten Weltkrieg im Steinbergviertel gab und sich u.a. »gegen streunende Banden von der Ludwigshöhe« zur Wehr setzte:


»Bis heute erhalten gebliebene Nachkriegsaufzeichnungen von Bewohnern dieses schönen Fleckchens von Darmstadt erzählen von diesen aufregenden Zeiten. Die Banden von der Ludwigshöhe bestanden unter anderem aus [polnischen] Fremdarbeitern, die in den ehemaligen Baracken der Luftwaffe auf Bessungens Hausberg wohnten. Diese Banden versuchten sich durch Plünderungen und Diebstähle einen besseren Lebensstandard zu ermöglichen.

Allzu oft wurde daher in die Häuser des Steinbergviertels eingebrochen. Kurzerhand gründete die dort wohnende Jugend unter der Leitung eines ehemaligen Generals des Ersten Weltkriegs eine Bürgerwehr. Der General, selbst Bewohner des Viertels, organisierte die Verteidigung von Gärten, Häusern und auch Ruinen. Die Bewaffnung dieser Wehr bestand aus Mistgabeln, Äxten und Kochtöpfen. Letztere wurden mit lautem Geschrei auch als Trommeln benutzt, so dass man die Eindringlinge in die Flucht schlagen konnte. Ein der Zwangsentwaffnung nach dem Krieg „entkommenes“ Luftgewehr war jedoch die Hauptwaffe dieser ganz speziellen „militärischen Einheit“ des Steinbergviertels. Noch heute leben Mitglieder dieser Bürgerwehr im Steinbergviertel. Sie haben also ihre Heimat „erfolgreich verteidigen“ können.«

Ich bin dankbar für den Hinweis eines Kollegen* auf diese Quelle** – und die Einsicht, dass es auch in meiner unmittelbaren Umgebung Ansätze gab (und gibt), die scheinbare Selbstverständlichkeit des eigenen Lebensstandards nicht zu hinterfragen. Die Gleichgültigkeit dahinter scheint skalierbar zu sein.


** Zitat aus dem Buch »Die Ludwigshöhe«, von Thomas Neuster,

    © 2016 by stmv, ISBN 978-3-87820-160-1

 *  gefunden von Lukas Einsele

 

 

Jens Mangelsen

„Pushback“

Linkes Bild:     Zaid Bereketab, geboren in Eritrea.

                        Hat zwei Pushbacks erlebt.

Rechtes Bild:   Michael Buschheuer, geboren in Deutschland.

                        Hat Zaids dritten Pushback verhindert.


Diejenigen, die ihre Heimat verlassen müssen, sind Menschen auf der Flucht, keine Flüchtlinge. Sie geraten zwischen die Fronten aller beteiligten Parteien und

werden zum Spielball der jeweiligen Akteure. Menschenrechte werden missachtet und die Menschlichkeit wird über Bord geworfen. Schnell wird klar, dass die als Grenzsicherungsmaßnahmen getarnten Pushbacks, eine lebensverachtende und oftmals tödliche Praxis sind.

Es ist aktueller und offensichtlicher denn je, dass Menschlichkeit und Menschenrechte aktiv verteidigt werden müssen und nicht verhandelbar sein dürfen, denn alle Menschen können jederzeit in eine Situation der Verfolgung geraten.

 

 

Sebastian ReimolD

„Pushback”


Der Schein:

Das Wort „Pushback” klingt zunächst völlig harmlos – wie eine Abstoßungsreaktion. Als hätte es diese schon immer gegeben, als ob sie selbstverständlich wäre.

Das Experiment:

In der Chemie gibt es Flüssigkeiten, die sich gegenseitig abstoßen bzw. schwer miteinander zu vermengen sind. Dies führte zu meinem assoziativen Ansatz, der eine Mischung aus Öl und Wasser zeigt. Gelbes Öl, blaues Wasser – die Farben sind bewusst gewählt. In diesem Mikrokosmos entstehen größere und kleinere Fettblasen, die sich untereinander abkapseln. Kleine Blasen haben Schwierigkeiten, an den großen anzudocken, während sich größere leicht zusammenschließen.

Die Realität:

Sogenannte „Pushbacks” sind illegale Maßnahmen, mit denen Menschen in Not gewaltsam daran gehindert werden, eine Grenze zu überschreiten. Sie werden in teils lebensbedrohlichen Situationen sich selbst überlassen, was einer unterlassenen Hilfeleistung gleichkommt. Dass das Versprechen der Genfer Flüchlingskonvention, in jedem Land der EU einen Asylantrag stellen zu können, bewusst nicht umgesetzt wird, zeigt die Differenz zwischen moralischem Anspruch und Realität.

Der Umgang mit Fluchtbewegungen in unserer geografischen Region und die daraus erwachsende Verantwortung ist eine gesamteuropäische Aufgabe, nicht nur die der Grenzstaaten.

 

 

Jens Steingässer

„Sitzblockade“

Der Protestform einer Sitzblockade gleich, verweigere ich für das Unwort „Pushback“ die Realisation eines „neuen“ Bildpaares und zeige dieselben Bilder vom letzten Jahr ins Negativ invertiert.

Mein Protest richtet sich gegen die europäische Migrationspolitik und die Kommunikation über ebendiese, welche Jahr für Jahr wiederkehrende Steilvorlagen für die Auswahl des Unwortes des Jahres liefert.

Bild links: Gerald Knaus,

Gründungsdirektor des Thinktanks Europäische Stabilitätsinitiative.*


Bild rechts: Schlauchboot am Ostsee-Strand von Wustrow.

Vor 40 Jahren diente dieser Strand DDR-Bürgern für nächtliche Fluchtversuche im Faltboot.*


(*Ursprünglich zum Thema „Rückführungspatenschaften“ in 2021 im Positiv aufgenommen.)

 

 

Rahel Welsen

„Die Rauswurf-Tür“

Recht ist nicht immer Gerechtigkeit, Menschenrechte gelten nicht immer für alle Menschen. Manche Türen öffnen sich daher für manche Menschen auch nur in eine Richtung … So meine symbolische Rauswurf-Tür für diejenigen, die vom makabren Versprechen eines Transit-Service in die EU durch den belarussischen Diktator Lukaschenko in die Irre geführt wurden.

Mit Betreten europäischen Bodens hätten die Geflüchteten das Anrecht erworben auf ein Asylverfahren, dieses wird ihnen jedoch durch Pushbacks verweigert.

Die polnischen Grenzschützer drängen die Geflüchteten im Spätherbst 2021 brutal wieder zurück auf belarussisches Gebiet und nehmen so den Tod dieser Menschen billigend in Kauf.

Alle Pushbacks werden von den Grenzstaaten (Polen, Italien, Griechenland etc.) ausgeführt, aber von Gesamt-Europa insgeheim geduldet.

 

 

Andreas Zierhut

Linkes Bild:

Sumpf im Urwald von Białowieża

Rechtes Bild:

Grünes Licht an einem Haus nahe der belarussischen Grenze signalisiert Menschen in Not, dass sie dort Hilfe erwarten können. 


Der Weg von Belarus in die EU führt durch den Białowieża-Urwald. Nirgendwo in Europa ist der Wald so urtümlich und unberührt wie in diesem Weltnaturerbe. Entsprechend ist der Weg durch das oft sumpfige und wilde Gelände schwierig und birgt Gefahren – vor allem, wenn die Temperaturen fallen, wenn diejenigen, die sich auf den Weg wagen, schlecht ausgerüstet sind, Kinder und Kranke dabei sind. Wenn es an Nahrung, sauberem Wasser, Medikamenten, trockener Kleidung oder gar Schuhen mangelt. Wenn man sich verstecken muss.  

Wenn auf polnischer Seite Grenztruppen oder Soldaten Flüchtlinge finden, folgt ohne Anhörung und oft unter Anwendung rücksichtsloser Gewalt der PUSHBACK. Möglich macht das ein polnisches „Gesetz zum Schutz der Staatsgrenze“, das einen drei Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze als militärisches Sperrgebiet legitimiert. Dazu hat niemand Zutritt, weder Ärzte noch Journalisten noch Hilfsorganisationen noch europäische oder polnische Politiker. Niemand kann unabhängig überprüfen, was dort passiert.

Unterstützer:innen von Geflüchteten riskieren Verfahren wegen Menschenhandels oder Beihilfe zur Einreise (das trifft übrigens auf 24 der 27 EU-Staaten zu…). Gleichzeitig ist man allerdings auch in Polen verpflichtet, Menschen in Not zu helfen. Das Engagement für Migranten ist daher ein ständiger Balanceakt zwischen Menschenhandel und gebotener Hilfeleistung.

„Grupa Granica“ ist ein Netzwerk vieler in der Nothilfe engagierter Aktivisten und Initiativen. Bepackt mit schweren Rucksäcken, im Schutz der Dunkelheit nachts in den Wäldern, suchen sie Migrant:innen, versorgen sie mit Nahrung, Wasser, warmen Sachen, leisten – soweit möglich – medizinische und rechtliche Hilfe. Wichtig ist auch Öffentlichkeitsarbeit: Angesichts des militärischen Sperrgebiets ermöglichen Informationen, die sie beispielsweise von Migrant:innen bekommen, eine gewisse unabhängige Einschätzung der Situation. Die Berichterstattung über Rechtsbeugung, Missachtung der Menschenrechte und Gewalt durch staatliche Institutionen ist ein wichtiger Baustein für eine hoffentlich wieder an demokratischen Werten orientierte Zukunft Polens.

Die Initiative „Green Lights“ arbeitet ähnlich. Der Gründer Kamil Syller ist Jurist und hat daher zusätzlich im Wald auch Papiere dabei – er kann dort direkt rechtliche Prozesse einleiten und damit – selbst im Fall eines Pushback – den Status der Betroffenen bei einer erneuten Einreise klären. „Green Lights“ sind grüne Lichter an Häusern oder in den Fenstern, die nachts den Geflüchteten signalisieren, dass sie dort Hilfe erwarten können.

Im Osten Polens hat die Regierungspartei PIS die absolute Mehrheit. Die Menschen hier mögen keine Fremden. Durch Dämonisierung und Entmenschlichung von Geflüchteten als Gefahr für die Sicherheit schaffen Regierung und Medien ein feindliches Umfeld für Migrant:innen ebenso wie für jene, die sich solidarisch zeigen. Im Herbst, als die Temperaturen zusehends unter null sanken und die Not in den Wäldern immer größer wurde, drehte sich das Meinungsbild. Nicht, dass man seither für Einwanderung ist – aber die Brutalität der Regierungsmaßnahmen gegen die Migrant:innen lehnen inzwischen mehr als 70% der Bevölkerung ab. 
Das äußerst kräftezehrende Engagement der vielen Helfer, sagen meine beiden Interviewpartner, Kamil Syller von „Green Lights“ und Kasia Wappa von „Grupa Granica“, ist nicht wirklich freiwillig. Zu wissen, dass in den Wäldern vor der Haustür Menschen, Kinder in Lebensgefahr sind, lässt keinen Spielraum, einfach weiter zu leben, als würde  nichts geschehen. 

Die Interviews mit Kasia Wappa von Grupa Granica und Kamil Syller von Green Lights finden Sie hier, unter diesem Text rechts.